„David Miller ist ein britischer Philosoph, der an der Oxford University lehrt. Miller bestreitet nicht, dass unsere Weltordnung den Armen schadet. Für ihn ist die verheerende Armut auf der Welt ebenfalls untragbar. Er wehrt sich aber gegen Pogges These, dass wir die Hauptverantwortung dafür tragen. Auch Miller verwendet einen anschaulichen Vergleich: Stellen wir uns eine Kreuzung in einer Stadt mit einem Kreisverkehr vor. In dem Kreisverkehr passieren immer wieder Unfälle. Wer trägt die Verantwortung für diese Unfälle? Eine Möglichkeit wären die Fahrer der Autos, die die Unfälle verursacht haben. Sie waren unkonzentriert und haben das andere Auto übersehen oder sie haben versehentlich falsch geblinkt. Verantwortlich könnten aber auch die Ingenieure sein, die sich für einen Kreisverkehr entschieden haben. Sie hätten auch ein Ampelsystem wählen können, von dem sie wussten, dass dadurch viele Unfälle vermieden würden. Doch das hält Miller für unplausibel. Die Ingenieure konnten davon ausgehen, dass die Fahrer in der Lage sind, das Auto gefahrlos durch den Kreisverkehr zu lenken, wenn sie aufmerksam genug sind, was ihre Verantwortung als Verkehrsteilnehmer ist. In jedem Fall hätten die Ingenieure nicht die Hauptverantwortung für die Unfälle.“
„Er will also damit sagen, dass es nicht unsere Verantwortung ist, wenn korrupte Diktaturen die Schwächen unserer Weltordnung ausnutzen.“
„Richtig. Er stellt die Frage, ob es in unserer Weltordnung verantwortlichen Politikern in der dritten Welt möglich ist, ihr Armutsproblem selbst zu lösen. Ein Beleg für ihn sind Länder wie Malaysia, die das im Gegensatz zu vielen anderen geschafft haben. Während Malaysia und Ghana am Ende der Kolonialzeit noch gleich arm waren, war das Pro-Kopf-Einkommen in Malaysia fünfzig Jahre später zehnmal höher als in Ghana. Miller behauptet nicht, dass wir eine weiße Weste haben und die Weltordnung einwandfrei konstruiert haben. Er bestreitet aber, dass wir die Hauptverantwortung tragen. “
„Miller würde also sagen, dass unser ‚Kreisverkehr‘ immer noch genug Chancen bietet, gut durch den Verkehr zu kommen. Pogge würde dem wohl entgegenhalten, dass unser ‚Kreisverkehr‘ so unverantwortlich riskant konstruiert wurde, dass die Chancen für ein unfallfreies Fahren sehr gering sind. Länder wie Malaysia wären glückliche Ausnahmen.“
„So könnte man den Unterschied zwischen den beiden vielleicht formulieren. Um zu beurteilen, was eher zutrifft, sollten wir uns später die Weltwirtschaftsordnung noch genauer ansehen. Machen wir aber mit den ethischen Fragen noch ein wenig weiter und schauen uns Millers Antwort auf Peter Singer an.“
„Gut.“
„Miller stellt sich die Frage, ob Singers Teichbeispiel wirklich ein guter Vergleich für unsere Verantwortung für die Weltarmut ist. Er sieht vor allem drei wesentliche Unterschiede: 1) Für Miller stehen die Menschen in den reichen Gesellschaften in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen, bei denen man fragen müsste, wer für wie viel der Hilfe aufkommen soll. Für ihn ist die Hilfe eine kollektive Angelegenheit der Gesellschaft und nicht eine individuelle wie bei Singer. Wenn es eine kollektive Angelegenheit ist, spielt die Frage, wer wie viel beizutragen hat eine entscheidende Rolle. 2) Wer ein Kind aus dem Teich rettet, kann damit rechnen, dass das Kind ein glückliches Leben mit einer hohen Lebenserwartung haben wird. Wenn wir Hilfsorganisationen Geld spenden, ist dies wesentlich unsicherer. Das von uns gerettete Kind könnte kurze Zeit später an einer anderen Krankheit sterben. Die Verbesserung der Situation der Armen ist wesentlich schwerer durchzusetzen, weil es, wie er sagt, ein Makroebenen-Problem ist. Das Problem liegt vor allem in den ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen. 3) Für Miller geht Singer zu wenig auf die Frage ein, ob die Notlage von den Menschen in der dritten Welt unverschuldet ist oder ob sie selbst dafür verantwortlich sind. Er fragt z.B.: ‚Wenn sie wegen Missernten sterben, hätten sie andere Pflanzen setzen sollen? Wenn sie an Aids erkranken, hätten sie ihr sexuelles Verhalten ändern sollen?‘ Obwohl Miller Hilfe für selbstverschuldete Notlagen nicht grundsätzlich ablehnt, hält er diesen Aspekt doch für wichtig. Er schreibt, ‚wir können sicherlich davon ausgehen, dass jene, die die Armut verursacht haben, auch für deren Beseitigung zuständig sind.‘“
„Was würde Singer dazu sagen?“
„Vielleicht denkst du selbst einmal darüber nach. Versuche Millers Einwände mit dem Teichbeispiel zu vergleichen und das Teichbeispiel entsprechend abzuändern. Es gibt eine Reihe weiter Einwände anderer Philosophen, auf die Singer wiederum geantwortet hat. Z.B. wurde Singer entgegengehalten, dass er die Menschen moralisch überfordert. Ein anderer Einwand lautet, dass räumliche Entfernung moralisch doch einen Unterschied macht. So hat die Philosophin Frances Myrna Kamm geschrieben, wenn wir Arme hätten, die bis nach Indien reichten, dann wäre unsere Verantwortung zu helfen größer.“