Ein typisches Merkmal der Pflichtethik ist: Für die moralische Bewertung von Handlungen werden die Folgen nicht oder nur bedingt berücksichtigt. Die Pflichtethik entspricht in diesem Punkt einer verbreiteten moralischen Intuition: Es gibt Handlungen, die man auch dann nicht tun darf, wenn die positiven Folgen klar überwiegen. Ein klassische Beispiel hierfür ist: Einen Menschen töten, um mit seinen Organen fünf sterbenskranke Menschen zu retten. Eine solche Handlung gilt moralisch als sehr verwerflich.
Wie aber wird dies begründet? Und woher weiß Alina, ob auch der Betrug eine grundsätzlich unmoralische Handlung ist?
Kant hält zunächst fest, dass es nichts uneingeschränkt Gutes gibt, als allein ein guter Wille. Kant meint damit, dass Handlungen nicht schon deshalb als uneingeschränkt gut gelten können, weil sie Eigenschaften verbunden sind, die wir als positiv ansehen wie Verstand, Mut, Beharrlichkeit, Ehre oder Gesundheit. Auch wenn Alina ihren Verstand einsetzt und ihre Ziele mit aller Beharrlichkeit verfolgt, müssen ihre Handlungen deshalb noch nicht gut sein. Ein Bankräuber kann intelligent und mutig sein, gut ist sein Handeln deshalb aber nicht. Es kommt auf den guten Willen an. Hieraus ergibt sich für Alina aber noch kein Prinzip, das ihrem Handeln eine Orientierung bietet: Alina hat einen guten Willen, welche Handlung ist aber moralisch richtig? Darf sie das gefälschte Bild verkaufen?
Ein Prinzip für das Handeln ist nach Kant, seine Pflicht zu tun. Es ist nach Kant beispielsweise eine Pflicht, einem verletzten Menschen im Straßengraben zu helfen. Tut er dies, handelt er moralisch richtig. Allerdings bedeutet dies nicht, dass sein Handeln auch moralisch uneingeschränkt gut ist. Wenn er nur deshalb hilft, um damit eine Frau zu beeindrucken, ist sein Handeln nicht von einem guten Willen bestimmt. Das Prinzip, seine Pflicht zu tun, hilft Alina aber auch nicht weiter. Woher soll sie wissen, was ihre Pflicht ist?
Alle Situationen, in denen Menschen handeln, unterscheiden sich voneinander. Sie finden zu verschieden Zeiten an verschiedenen Orten statt und haben unterschiedliche Folgen. Soll sich Alina nicht an den Folgen, sondern an einem Prinzip orientieren, muss dieses Prinzip auf verschiedene Situationen anwendbar sein. Tatsächlich verwendet Alina Grundsätze, die sie in verschiedenen Situationen anwendet. Zum Beispiel hat sie den Grundsatz fitter zu werden und folgt diesem Grundsatz in verschiedenen Situationen: Sie macht jeden Abend Liegestütze und wenn sie genug Zeit hat, fährt sie mit dem Fahrrad statt mit dem Auto. Solche Grundsätze (hypothetische Imperative) sind aber sehr individuell. Sie bieten Alina keine Orientierung, was die moralisch richtige Handlung ist.
Das Prinzip, das Alina moralische Orientierung bietet, ist für Kant der sog. kategorische Imperativ. Dabei handelt es sich um ein Testverfahren, durch das sich Maximen prüfen lassen. Eine Maxime ist eine Regel, nach der man eine bestimmte Handlung ausführt, wenn man sich in einer bestimmten Situation befindet. Eine Maxime könnte beispielsweise sein: Ich helfe nicht, wenn ich jemand begegne, der verletzt ist. Oder: Ich breche mein Versprechen, wenn es für mich nachteilig ist. Wie lässt sich die Moralität einer Maxime nun testen? Kant bietet dafür mehrere Verfahren an, die verschiedenen Formulierungen des kategorischen Imperativs entsprechen. Eine dieser Formulierungen ist:
„Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.“
Das Testverfahren besteht in einem Gedankenexperiment: Ich stelle mir vor, meine Maxime sei ein allgemeines Naturgesetz. Daraufhin frage ich mich, ob ich dies wollen oder denken kann: Kann ich wollen oder denken, dass alle so handeln? Nach Kant führen die beiden genannten Maximen zu einem Widerspruch. Ich kann nicht wollen, dass alle nach der Maxime handeln, nicht zu helfen, wenn sich jemand (einschließlich mir selbst) in Not befindet.
Die Maxime, mein Versprechen zu brechen, wenn es für mich nachteilig ist, kann ich nach Kant nicht einmal als allgemeines Naturgesetz denken: Es führt in einen logischen Widerspruch. Denn wenn alle stets lügenhafte Versprechen abgeben, wird niemand mehr ein Versprechen abgeben – es wird sinnlos, dies zu tun. Maximen, die zu einem Widerspruch im Denken führen sind nach Kant vollkommene Pflichten, die eine unbedingte Geltung haben.
Aus dem als „kategorescher Imperativ“ bezeichneten Prinzip können also moralische Regeln abgeleitet werden, die im Unterschied zu den hypothetischen Imperativen unabhängig von einem angestrebten Ziel gelten. Ich darf Versprechen nicht brechen, unabhängig davon, welche Ziele ich verfolge. Hieraus erklärt sich der Name des kategorischen Imperativs: Die aus ihm abgeleiteten Regeln gelten unbedingt (kategorisch), im Unterschied zu Regeln, die bedingt gelten (hypothtisch), weil sie von konkreten Zielen abhängen.
Was bedeutet das für Alina? Darf sie das gefälschte Bild verkaufen als wäre es echt, um ihre Mutter zu retten? Nach Kant darf Alina dies nicht tun. Denn mit dem Betrug ist es ähnlich wie mit dem lügenhaften Versprechen: Wenn Menschen nicht mehr wahrhaftig sind, dann wird der der Kommunikation zwischen Menschen ihre Basis entzogen. Nicht zu betrügen ist eine vollkommene Pflicht, die keine Ausnahme erlaubt, selbst wenn der Tod eines Menschen auf dem Spiel steht.